Nachhaltigkeits-Handbuch

ocean

I.
DIE UNTERNEHMEN
UND DIE ARTENVIELFALT

1. Die Artenvielfalt als Lieferant von Dienstleistungen für Unternehmen

Die Artenvielfalt bietet den Menschen und somit auch den Unternehmen verschiedene Dienstleistungen im Bereich der Versorgung, der Regulierung, der Kultur und der Unterstützung, die sie ihnen kostenlos zur Verfügung stellt. Man spricht daher von „Ökosystemleistungen“.

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Dank dieser Ökosystemleistungen kann sich ein Unternehmen somit mit Rohstoffen oder Süßwasser (Versorgungsdienst) versorgen, es kann (in gewissem Maße) Rauch, Abgase und Abwasser ausscheiden, die auf natürliche Weise durch Mikroorganismen und Pflanzen gereinigt werden (Regulierungsdienst), oder auch ein „Teambuilding“ veranstalten und den Mitarbeitern einen Spaziergang im Wald oder eine Kajakfahrt auf der Ourthe vorschlagen (kultureller Dienst).

Man sagt, dass ein Unternehmen von Ökosystemleistungen abhängig ist, wenn diese Dienstleistung einen Beitrag zu den Aktivitäten des Unternehmens leistet oder wenn er die Umweltbedingungen verbessert oder beeinflusst, die für gute Unternehmensleistungen nötig sind.

Hier einige Beispiele von Ökosystemleistungen zugunsten der Unternehmen.

  • Die Artenvielfalt ist der bevorzugte Lieferant von natürlichen Rohstoffen, die in der Industrie immer häufiger als ökologische Alternativen zu synthetischen Stoffen verwendet werden, weil sie in der Regel einfacher biologisch abbaubar sind. Sie werden heute in unterschiedlichen Sektoren wie der Pharmazie, der Kosmetologie, der Parfümerie, dem Lebensmittelsektor, der Ernährungswissenschaft, dem Bausektor, der Sanierung und der Dekoration eingesetzt.
  • Die Wälder liefern Nutzholz und Holzfasern, regulieren das Klima, indem sie Kohlenstoff binden (der von den Unternehmen ausgestoßen wird), und produzieren genetische Ressourcen, die in Arzneimitteln verwendet werden.
  • Die Korallenriffe ziehen Touristen an, dienen als Lebensraum für die Nutzfische (von denen die Fischerei abhängig ist) und schützen die Küstenregionen vor Sturmwellen (was dem Tourismussektor dient).
  • Die Wasserläufe liefern Süßwasser (das für die Getränkeherstellung und in bestimmten Produktionseinheiten verwendet wird) und Energie (in Wasserkraftwerken). Die Feuchtgebiete reinigen Abwasser, fangen Überschwemmungen auf und filtern Sickerwasser.
  • Bestimmte Insekten (Bienen, Wespen, Schmetterlinge…) und Tiere (Fledermäuse, Kolibris…) bestäuben die Pflanzen und sichern somit den Broterwerb für die Landwirte und die Lieferung von Rohstoffen für den Lebensmittelsektor.

2. Die Unternehmen inspirieren sich aus der Artenvielfalt

Die Natur hat den Menschen schon immer inspiriert und ihm zahlreiche Erfindungen geschenkt. Leonardo da Vinci erfand die ersten Maschinen, mit denen der Mensch Fliegen lernte, nachdem er die Vögel beobachtet hatte. Heute suchen die Unternehmen in der Natur nach Ideen für neue Formen und Funktionsweisen.

Der Mensch beobachtet und kopiert die Natur. In den Jahren 1950 entstanden so die Klettverschlüsse (Velcro) nach dem Vorbild der Klettpflanze, die sich an Stoffen festhaken. Im Design des japanischen Schnellzugs ist der Schnabel des Eisvogels zu erkennen.

Die Ingenieure arbeiten heute mit leistungsstarken Technologien (Mikroskope, Computermodellierung, …), mit denen sie die Herstellungsverfahren verbessern können, nachdem sie die Natur genau beobachtet haben. Diese neuen Technologien, diese neuen Materialien und Herstellungsprozesse sind unter den Begriffen „Bionik“ oder „Biomimetik“ bekannt.

Hier einige Beispiele:

  • Die Echoortung der Fledermäuse wird untersucht, um das Sonarprinzip zu verbessern und es in der Luftfahrt anzuwenden. Weitere Anwendungen der künstlichen Echoortung finden sich in den Sektoren der medizinischen und geologischen Bildverarbeitung oder in der Entwicklung elektronischer Hilfsmittel für die Mobilität sehbehinderter Personen wieder.
  • Die Muscheln scheiden eine Flüssigkeit aus, die es ihnen erlaubt, an ihrer Unterlage zu haften. Dabei erhärtet sich diese Flüssigkeit bei Kontakt mit Wasser. Heute werden ökologische und starke Leime entwickelt, die bestimmte Stoffe enthalten, die sich auch in dieser Flüssigkeit befinden.
  • Die Oberfläche des Lotusblatts weist erstaunliche Eigenschaften auf: Die Schmutzpartikel bleiben nicht darauf haften, weil sie auf unzähligen kleinen Härchen liegen. Der Schmutz wird deshalb mit den ablaufenden Wassertropfen weggespült. Durch die Untersuchung des Lotusblatts konnte eine selbstreinigende Technik entwickelt werden, die heute in Farben, Verglasungen und Textilien angewandt wird.

Die Bionik ist ein Sektor im vollen Aufschwung, da sie die Entwicklung nachhaltiger Lösungsansätze bietet. Bisher haben die herkömmlichen Herstellungsverfahren viel Energie, viele Rohstoffe und aggressive Behandlungstechniken gebraucht. Den Lebewesen, die sich im Laufe von 3,5 Milliarden Jahren entwickelt haben, ist es aber gelungen, Unvollkommenes zu beseitigen und zu optimieren, was es zu optimieren gab. Man findet daher in der Natur Keramik, Zemente, Leime, Kabel, Wärmeisolierungen, Frostschutzmittel, Desinfektionsmittel, Sonnenkollektoren, Insektenvernichtungsmittel, Informations-verarbeitungssysteme oder auch Wärmeregulierungssysteme, die von lebenden Organismen aus Stoffen hergestellt werden, die sie in der Umwelt finden. Die Industrien können diese Herstellungsverfahren als Beispiel nehmen und ihren Ressourcenverbrauch senken und zu einer nachhaltigen Wirtschaft beitragen.

Beispiel Glas
Um Glas herzustellen, müssen wir Sand auf eine Temperatur von 1.400°C erhitzen. Man hat jedoch Mikroalgen (die Kieselalgen) entdeckt, die von einer durchsichtigen Hülle umgeben sind, die Glas sehr ähnlich sieht. Diese Algen können diese Hülle aber bei Umgebungstemperatur aus Silikatmolekülen herstellen, die im Meerwasser aufgelöst sind. Sollte es dem Menschen gelingen, dieses Verfahren zu kopieren, könnte die Glasindustrie gewaltige Energieeinsparungen machen.

Der Dienst Ask Nature
Die amerikanische Stiftung BIOMICRY, die von Janine Benyus gegründet wurde, bietet einen online-Dienst Ask Nature (Frage die Natur) an. In dieser Datenbank können Ingenieure, Designer, Entwerfer, Architekten und alle Fachleute, die sich für die Innovation interessieren, innovative Lösungen finden, die nach Themen geordnet und die Natur als Vorbild haben (Bionik). Die Einschreibung ist kostenlos.
> www.asknature.org (Webseite auf Englisch)

Ein ähnlicher Dienst wird auch in Europa angeboten:
> www.biomimicryeuropa.org (Webseite auf Englisch).

3. Welchen Einfluss haben die Unternehmen auf die Artenvielfalt?

Ein Unternehmen hat einen Einfluss auf die Artenvielfalt, wenn es die Qualität oder Quantität der Dienstleistung verändert.

Manche Industrieaktivitäten haben größere Auswirkungen auf die Umwelt und die Artenvielfalt als andere. Man sollte sich immer vor Augen halten, dass ein Unternehmen sich in einem natürlichen Umfeld entwickelt. Dieses Umfeld umfasst Wasser, Luft, Boden, Pflanzen und Tiere sowie die Menschen. Durch seine Aktivitäten kann ein Unternehmen einen oder mehrere dieser Faktoren verändern oder beeinflussen. Selbst wenn sein Einfluss geringfügig ist, kann er eine Kettenreaktion auslösen, die das ganze Ökosystem stören kann.

Im Allgemeinen unterscheidet man zwischen folgenden Einflüssen eines Unternehmens auf die Artenvielfalt:

  • Der Verbrauch von Ressourcen: Ein Unternehmen benötigt Rohstoffe, Energie, Wasser, …, um funktionieren zu können. Durch den Abbau von Rohstoffen in der Natur können die Ökosysteme gestört werden, aus denen sie entnommen werden oder die für ihren Abbau zerstört werden müssen.
  • Die Umweltverschmutzung: Jede wirtschaftliche Aktivität hat Auswirkungen auf die Umwelt. Es handelt sich um direkte Verschmutzungen (wie zum Beispiel fester oder flüssiger Abfall, Rauch, Abwasser, auslaufende gefährliche Stoffe, …) oder indirekte Belastungen und Verschmutzungen (Lärm und Vibrationen aus Maschinen, erhöhter Straßenverkehr wegen des Güter- oder Personentransports, CO2-Ausstoß oder Luftverschmutzung infolge dieses Transports oder der Beheizung, …). Diese Auswirkungen können einen größeren oder kleineren, mittel- oder langfristigen Einfluss haben und nur die direkte Nachbarschaft betreffen oder aber globale Folgen haben. In bestimmten Fällen stellen sie einen Nachteil für die Lebewesen und die Funktionsweise der Ökosysteme dar.
  • Die Nutzungsänderung von Bodenflächen: Jede wirtschaftliche Aktivität besetzt einen Standort. Es kann sich zum Beispiel um einen landwirtschaftlichen Betrieb handeln, der mehrere Hektar Boden für seine Anpflanzungen braucht, eine Fabrik, deren Anlagen mehrere hundert Quadratmeter Boden besetzen oder einen Friseursalon, der einige Quadratmeter in einem Einkaufszentrum belegt. Für die Artenvielfalt spielt die Wahl des Standorts eines neuen Einkaufszentrums oder eines neuen Unternehmens in einem Gewerbegebiet eine große Rolle. Wenn sich ein Unternehmen in der Nähe eines Naturschutzgebiets, eines Waldes, eines Flusses oder eines Sees niederlässt, besteht die Gefahr, dass dieses Umfeld durch seine Aktivitäten oder mögliche Unfälle gestört wird (auslaufende Stoffe, Explosionen…).

4. Welche Folgen hat der Verlust der Artenvielfalt für die Unternehmen?

Es stimmt, dass bestimmte Ökosystemleistungen durch Techniken oder auch den Menschen ersetzt werden können (Luftreinigung, Wasserklärung, …), aber trotzdem bleiben diese Prozesse sehr teuer (in Geld und Ressourcen) und sind sie nicht immer so wirksam, wie die natürlichen Verfahren. Trotz technischer Fortschritte hängen die Unternehmen weiterhin von diesen kostenlosen Dienstleistungen ab.

Die Getränkeindustrie hängt beispielsweise von den Süßwasserressourcen ab. Der Lebensmittelsektor ist von der Fähigkeit der Natur abhängig, Pflanzen zu bestäuben oder Schutz gegen Raubtiere und die Bodenabtragung zu bieten. Die Versicherungsgesellschaften ziehen großen Nutzen aus den Korallenriffen, die die Küstengebiete schützen, wohingegen der Tourismus die Freizeitmöglichkeiten dieses Ökosystems hoch schätzt. Und weil die Ökosystemleistungen kostenlos sind, gehen viele Unternehmen davon aus, dass sie für immer und ewig vorhanden sein werden.

Die Fähigkeit der Ökosysteme, diese Dienstleistungen auch in Zukunft in einem zufriedenstellenden Rhythmus anbieten zu können, steht jedoch heute in Frage. Die Evaluation der Ökosysteme für das Millennium (Millenium Ecosystem Assessment) hat eine durch den Menschen herbeigeführte Veränderung der Ökosysteme festgestellt, die in den vergangenen 50 Jahren schneller und intensiver war, als zu jedem anderen Zeitpunkt in der Menschengeschichte.

Die Verschlechterung der Qualität der Ökosysteme und der Verlust der Artenvielfalt stellen also eine Reihe von Risiken für die Unternehmen dar. Hier einige Beispiele:

  • Der Süßwassermangel kann zu einer Preiserhöhung des Wassers führen;
  • Die Verschlickung kann die Leistungsfähigkeit von Wasserkraftwerken senken;
  • Überschwemmungen können die Handels- und Tourismusaktivitäten der Küstengebiete stören;
  • Das Verschwinden der Bienen bedroht die Getreide-, Frucht- und Gemüseernten.

Außerdem achtet die Öffentlichkeit immer mehr auf den Schutz der Artenvielfalt und die Regierungen führen immer mehr zwingende Gesetzgebungen ein, um die Artenvielfalt zu schützen. Das hat auch Folgen für die Unternehmen. Hier einige Beispiele:

  • Die Unternehmen müssen strengere Vorlagen einhalten. Die örtlichen Behörden oder der Gesetzgeber können einem Unternehmen, dessen Aktivitäten eine Gefahr für die Artenvielfalt darstellen, unter Umständen Bußgelder, Nutzungsrechte, staatliche Interventionen oder strafrechtliche Verfahren auferlegen bzw. anhängen.
  • Ein Unternehmen, dessen Aktivitäten eine Gefahr für die Artenvielfalt darstellen, kann von einer NGO angeprangert oder seine Produkte können von den Kunden boykottiert werden.
  • Ein Unternehmen, das die Bedeutung der Artenvielfalt leugnet, kann Kunden verlieren, die sich für einen anderen Lieferanten entscheiden, dessen Produkte einen kleineren Einfluss auf die Artenvielfalt haben.
  • Das Unternehmen läuft Gefahr, bei öffentlichen Auftragsvergaben nicht wettbewerbsfähig zu sein, weil Regierungsbeschlüsse neue, nachhaltige Kaufstrategien vorschreiben.

Beispiele von Unternehmen, die den Einfluss der Artenvielfalt und der guten Funktionsweise der Ökosysteme auf ihre Aktivitäten erkannt habe :

  • Die Sichuan-Region in China ist für ihren Birnenanbau bekannt. In den Jahren 1980 ging die Bienenbevölkerung stark zurück, weil intensiv Schädlingsbekämpfungsmittel eingesetzt wurden. Ohne Bienen wurden die Birnbäume aber nicht mehr bestäubt und trugen keine Früchte mehr. Der gesamten lokalen Wirtschaft drohte der Untergang. Seither müssen jährlich im Monat April Tausende Arbeiter die Bienen ersetzen und die Birnenblüten mit der Hand in einem mühsamen und teuren Verfahren bestäuben.
  • In den Jahren 1980 musste ein französischer Mineralwasserhersteller feststellen, dass seine Quellen im Nordosten Frankreichs durch Nitrat- und Pestizidinfiltrationen verseucht waren. Die örtlichen Landwirte hatten ihre landwirtschaftliche Aktivität ausgebaut und jene Böden urbar gemacht, auf denen die Vegetation vorher das Wasser filterte, bevor es in die Grundwasserreserven sickerte, die vom Unternehmen bewirtschaftet wurden. Durch diese Verunreinigung wurde die Genehmigung des Unternehmens gefährdet, sein Wasser unter der Bezeichnung „Natürliches Mineralwasser“, die in der französischen Gesetzgebung definiert wird, zu verkaufen. Das Überleben der Marke und des Unternehmens standen auf dem Spiel.
  • In den Jahren 1990 hat ein Energiehersteller aus Costa Rica sprichwörtlich seine Energiequelle verloren, als die örtlichen Landbesitzer die bewaldeten Hangflächen flussaufwärts der Stauseen des Unternehmens für die Viehzucht und die Landwirtschaft rodeten. Durch die Abholzung der Wälder haben die starken Regenfälle den Boden abgetragen und den Fluss verschlammt, wodurch das Stauwasser reduziert wurde, die Turbinen nicht mehr in voller Leistung arbeiten konnten und der Energieertrag sank.
  • Ein Lebensmittelkonzern wurde mit dem Problem der Überfischung konfrontiert. Der Kabeljau, der hauptsächlich für die Zubereitung der hochwertigen, tiefgekühlten Lebensmittelzubereitungen des Konzerns verwendet wurde, wurde überfischt, sodass der Fischbestand drastisch zurückging und im Westen des Nordatlantiks völlig verschwand. Durch die nachfolgenden spektakulären Preiserhöhungen wurde die Gewinnmarge des Unternehmens für seine Kabeljau-Produkte um 30% gesenkt.