Nachhaltigkeits-Handbuch

thon rouge

II.
ARTENVIELFALT
UND UMWELTASPEKTE

1. Auswirkungen des Menschen auf die Artenvielfalt

Wie der Mensch haben auch Tiere und Pflanzen Grundbedürfnisse, die erfüllt werden müssen, um das Leben der Individuen und das Überleben der Art zu sichern. Dabei handelt es sich vor allem um die Nahrung (Güte und Menge), die spezifischen Lebensräume, die Ruhezonen und die gesunden Partner (soziales Leben, Fortpflanzung).

Im Allgemeinen bietet das natürliche Umfeld alles, was eine Art zum Leben braucht. Durch das menschliche Einwirken kann es aber sein, dass dieses Gleichgewicht gestört wird, in manchen Fällen so schwer, dass die erforderlichen Überlebensbedingungen bestimmter Arten nicht mehr erfüllt sind. Das hat zur Folge, dass diese Arten ihre Bedürfnisse nicht mehr erfüllen können und ihre Zahl zurückgeht. Andere Arten werden durch die Störungen geschwächt und halten kritischen Situationen nicht mehr gut Stand (Verschmutzung, Klimaerwärmung, Dürre, Krankheiten, Parasiten, Räuber…).

Man unterscheidet zwischen verschiedenen Gefährdungen der Artenvielfalt durch menschliches Einwirken:

  • Die Zerstörung, die Fragmentierung oder die Umwandlung der Lebensräume. Der Ausbau zahlreicher Aktivitäten wie die Landwirtschaft, die Forstwirtschaft, die Industrie, die Verstädterung, der Tourismus usw. verursacht den Verlust oder die Verschlechterung der natürlichen Lebensräume. Bestimmte natürliche Gebiete, in denen Tiere und Pflanzen Unterschlupf fanden, wurden stark beeinträchtigt oder sogar zerstört. Die überlebenden Naturgebiete sind immer isolierter. Häufig werden diese Gebiete durch die so genannten ökologischen Schranken, die den Austausch unter Individuen unmöglich machen (z.B. Straßen, künstliche Wasserläufe, Betonhindernisse…) voneinander getrennt. Dies verursacht eine genetische Verarmung der Bevölkerung, die auf Zeit zu ihrem Aussterben hinauslaufen kann.

Beispiele: die Abholzung und die intensive Landwirtschaft
Unter Abholzung versteht man die Vernichtung von mindestens 90% des Waldbewuchses auf einer bestimmten Fläche. Davon sind insbesondere die Regenwälder betroffen. In Südamerika und Afrika werden schätzungsweise etwa 4 Millionen Hektar Wald pro Jahr vernichtet und über 100.000 km2 (d.h. mehr als drei Mal die Fläche Belgiens) werden jährlich weltweit dem Erdboden gleich gemacht. Einer der Hauptgründe für die Abholzung liegt in der Verwertung des Holzes, das den örtlichen Bevölkerungen zum Heizen dient, oder auch in der Verwendung von Edelholz (Teack, Mahagoni, Balsaholz), das in die Industrieländer exportiert wird. Ein weiterer Grund für die Abholzung ist die Rodung der Wälder, um landwirtschaftliche Flächen zu gewinnen, die häufig dem intensiven Anbau (Soja, Mais, Ölpalmen) und der Zucht für den Export in die entwickelten Länder dienen. Ein dritter Grund für die Abholzung sind die Waldbrände, die jedes Jahr überall in der Welt große Waldflächen zerstören. Diese Waldbrände sind häufig das Ergebnis von Spekulationen. Die Brände werden heute gelegt, damit man morgen schneller eine land- und städtebauliche Genehmigung erhält.
Die Artenvielfalt lässt auch nach, weil wegen der intensiven Landwirtschaft die herkömmlichen Anbau- und Weidepraktiken nicht mehr angewandt und Monokulturen bevorzugt werden. Trotz des Anscheins ist ein Weizenfeld, das auf herkömmliche Weise angebaut wird (indem Pestizide, Herbizide und Kunstdünger verwendet werden), eine ökologische Wüstenlandschaft, da es nur eine Pflanzensorte enthält und nur wenige Insekten und Mikroorganismen beherbergt. Auf einer Blumenwiese findet man dahingegen unzählige Pflanzen- und Insektenarten und sie ist aus ökologischer Sicht viel reicher.

  • Der Raubbau der Arten. Der Raubbau der Wälder sowie die intensive Jagd und Fischfang sind für mehrere Arten lebensbedrohlich. Der Raubbau von Artenbevölkerungen bedeutet, dass die Bevölkerung einer Wildart über ihre Fähigkeit hinaus, sich selbst zu regenerieren, für die Ernährung, die Rohstoffe oder die Medizin beansprucht wird. Dies ist die größte Gefahr für die Artenvielfalt der Meere (roter Thun ist z.B. im Mittelmeer vom Aussterben bedroht). In anderen Fällen geht es um den Handel mit exotischen Tieren (Papageien, Fische, Schildkröten…) oder Produkten tierischer- oder pflanzlicher Herkunft (Elfenbein, die Hörner der Nashörner, Korallen…), der die Anzahl der Individuen einer Art bedrohlich verringert.
  • Die Verschmutzung bedroht die Arten und ihre Lebensräume auf direkte Weise, indem sie die Qualität der Nahrung und des Wassers (Vergiftung der Individuen) verschlechtert, oder auf indirekte Weise, indem sie die Lebensbedingungen verändert (Eutrophierung des aquatischen Lebensraums, Versäuerung der Ozeane, Verunreinigung des Wassers, des Bodens und der Luft…).

Beispiele: Eutrophierung und Versäuerung der Ozeane
Die Zunahme der Stickstoff- und Phosphatdünger in der Landwirtschaft steigert das Wachstum von Wasserpflanzen, die den Sauerstoff im Wasser schnell aufbrauchen. Dieses Phänomen nennt man die Eutrophierung.
Die steigende Konzentration des Kohlendioxids in der Luft verursacht die Versäuerung der Ozeane, was großräumige Folgen vor allem für die Muscheltiere und Korallenriffe haben kann.

  • Die Einführung invasiver Arten. Arten, die entweder absichtlich oder unabsichtlich in einem anderen als ihrem heimischen Lebensraum eingeschleppt werden, verbreiten sich und stehen mit den heimischen Arten in einem Konkurrenzverhältnis, zerstören sie oder werden zu Parasiten. Diese eingeschleppten Arten sind für das Aussterben zahlreicher heimischer Artenbevölkerungen verantwortlich. Dieses Phänomen ist besonders auf Inseln und in Süßwasser-Ökosystemen ausgeprägt, wo es die größte Gefährdung für die einheimischen Arten darstellt. Der Riesen-Bärenklau und der Japanische Staudenknöterisch sind zwei exotische Pflanzen, die unsere Regionen erobert haben. Auch soll die Einführung von genetisch veränderten Organismen (GVO) die Artenvielfalt beeinträchtigen.

Sind die genetisch veränderten Organismen (GVO) eine Gefahr für die Artenvielfalt?

Seitdem der Mensch anbauen und züchten kann, hat er immer wieder versucht, Arten auszuwählen und zu kreuzen (natürliche Methoden), um Arten mit genetisch vorteilhafteren Eigenschaften zu schaffen (größere Früchte und Gemüsesorten, Kühe mit höherem Milchertrag oder fleischigere Hühner).
Seit den 90er Jahren haben die Bemühungen des Menschen, die Artenvielfalt zu manipulieren, mit den genetisch veränderten Organismen eine neue Dimension angenommen. Die GVO umfassen Pflanzen, Tiere aber auch Bakterien oder Viren, deren Gene mit unnatürlichen Methoden vom Menschen verändert worden sind, indem ihnen Gene anderer Arten eingepflanzt wurden.
Die Anwendungen sind vor allem in der Landwirtschaft bekannt: Die Pflanzen werden zum Beispiel produktiver, nährreicher, widerstandsfähiger gegenüber pflanzenvernichtenden Insekten, Virenerkrankungen, Dürre, Herbiziden, …
Die GVO sind stark umstritten und fachen heiße Diskussionen zwischen Befürwortern und Gegnern an.
Für die Befürworter handelt es sich um eine neuartige Technologie, mit der der Ernteertrag gesteigert werden kann, die Pflanzen gegen Krankheiten und Schädlinge geschützt werden können, mit Vitaminen und Nährstoffen bereicherte Nahrungsmittel hergestellt werden können und die Hungernot in der Welt gelindert werden kann.
Die Gegner befürchten dahingegen, dass die GVO die Artenvielfalt bedrohen und die Stelle der natürlichen Arten einnehmen und zu invasiven Arten werden. Es handelt sich um eine recht neue Technologie, deren langfristige Folgen noch nicht abschätzbar sind. Die Tatsache, dass die GVO von großen multinationalen Unternehmen hergestellt und vermarktet werden, nährt ebenfalls die Befürchtung, dass die Landwirte (vor allem die kleinen Hersteller aus dem Süden) unter dem Druck dieser Konzerne leiden, dadurch an Autonomie einbüßen müssen und in den Teufelskreis der Verschuldung und Armut kommen. Andere Einwände sind ethischer Natur, da sich die Frage stellt, wer die Grenzen setzt und wo?

  • Der Klimawandel bedroht bestimmte natürliche Lebensräume und die Arten, die dort leben. Die ersten Folgen des Klimawandels machen sich bereits in den polaren Ökosystemen und den Gebirgen sowie in den Küsten- und Meeres-Ökosystemen, wie die Korallenriffe bemerkbar. Die künftigen Folgen sind auf lokaler Ebene schwer einschätzbar, aber es steht fest, dass alle Ökosysteme auf die Temperaturschwankungen und Wetterbedingungen reagieren. So kommt es, dass wir in unseren Regionen neue Arten entdecken, die aus dem Süden stammen, und dass manche Arten, die gestern noch an unser Klima angepasst waren, heute hier nicht mehr vorzufinden sind oder in den Norden ziehen.

2. Der Rückgang der Artenvielfalt

Die Artenvielfalt leidet unter dem großen Druck, den der Mensch ihr auferlegt, und man stellt heute fest, dass die Artenanzahl in allen Regionen der Welt auf spektakuläre Weise zurückgeht. Die Artenvielfalt lässt Jahr für Jahr nach. Manche Arten sterben aus, was das natürliche Gleichgewicht in vielen Regionen stört und das Überleben ganzer Ökosysteme in Gefahr bringt.

Natürlich war die Entstehung und das Aussterben von Arten schon immer Teil des Entwicklungsprozesses. Die Artenvielfalt erneuert sich ständig, in einem sehr langfristigen Prozess. Wenn nun aber sehr viele Arten in einer relativ kurzen Zeit aussterben, spricht man von Massensterben.

Seit der Entstehung des Lebens auf der Erde vor über 3,5 Milliarden Jahren hat unser Planet 5 große Massensterben erlebt. Jedes Mal sind zwischen 70% und 90% der bestehenden Arten verschwunden. Das jüngste Massensterben fand vor rund 65 Millionen Jahren statt und führte zum Aussterben der Dinosaurier.

Jedes der 5 großen Massensterben hatte verheerende Folgen für die Artenvielfalt. Aber bestimmte Arten haben überlebt und es ist ihnen zu verdanken, dass sich wieder neue Arten entwickeln konnten. Das Aussterben der Dinosaurier hat zum Beispiel dazu geführt, dass sich Blütenpflanzen, Vögel und Säugetiere und später auch die ersten Menschenaffen entwickeln konnten. Schätzungen zufolge sind 99% der Arten, die seit der Entstehung des Planeten darauf gelebt haben, ausgestorben. Und dennoch zählt man heute mehr Arten denn je. Das beweist, dass die Artenvielfalt sich von einer Katastrophe erholen kann. Trotz des Aussterbens vieler Arten passt sich das Leben an die neuen Bedingungen an und vermehrt es sich in immer neuen Formen. Selbst wenn der Wiederaufbau einer neuen Artenvielfalt jedes Mal Millionen von Jahren in Anspruch nimmt.

Nach Meinung von Wissenschaftlern befinden wir uns heute in einem sechsten Massensterben, weil die Arten derzeit in einem Rhythmus aussterben, der 1.000 bis 10.000 Mal höher liegt als unter natürlichen Umständen. Man geht davon aus, dass etwa alle 13 Minuten eine Art ausstirbt.

Während die vorherigen Massensterben durch Prozesse, die mit der Erde und dem Weltall in Verbindung standen, zurückzuführen sind (Vulkanismus, natürlicher Klimawandel, Einschlag von Meteoriten), liegt der Hauptgrund für das aktuelle Massensterben in einem der Elemente selbst der Artenvielfalt: der Mensch.

Zum ersten Mal scheinen die Pflanzen stark gefährdet zu sein, obschon sie bei den vorherigen Massensterben nur begrenzt betroffen waren. Das Aussterben der Pflanzen kann, weil sie die Grundlage der Nahrungsmittelkette bilden, die Funktionsweise der Ökosysteme entscheidend beeinflussen.

Experten zufolge sind mehr als ein Drittel der überprüften Arten vom Aussterben bedroht (23% der Säugetiere und 12% der Vögel) und haben sich schätzungsweise 60% der Ökosysteme der Welt in den vergangenen fünfzig Jahren verschlechtert.1 Die Wissenschaftler vermuten, dass bis zum Jahr 2025 etwa 20% der Arten aussterben werden. Dieser Verlust könnte bis 2050 auf 50% ansteigen. Wenn wir die aktuelle Situation nicht dringend ändern, wird sich die Artenvielfalt in den nächsten 50 Jahren um die Hälfte verringern.

Mehr Infos?

Der WWF veröffentlicht seinen Bericht „Living Planet Report“ alle zwei Jahre. Der Bericht kann auf www.panda.org heruntergeladen werden.

Living Planet Index
Die Organisation World Wildlife Found for Nature (WWF) hat einen Index geschaffen, mit dem die Gesundheit der Ökosysteme auf der Erde gemessen wird. Dieser Index heißt der „Living Planet Index“. Er misst die Entwicklung der biologischen Vielfalt auf der Erde. Damit wird die Entwicklung der Bevölkerungen von 1.313 Wirbeltierarten (Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel, Säugetiere) aus allen Regionen der Welt untersucht.

Gemäß diesem Index sind die Bevölkerungen der untersuchten Arten zwischen 1970 und 2003 im Durchschnitt um 30% zurückgegangen. In bestimmten Regionen (insbesondere in den tropischen Zonen) sind die Bevölkerungen sogar um 55% gesunken.

Europa ist hier leider keine Ausnahme. Die Hälfte der Säugetiere und ein Drittel der Reptilien-, Fisch- und Vogelarten sind vom Aussterben bedroht. Nahezu 3.000 Pflanzenarten auf dem Gebiet der Europäischen Union sind bedroht.

Es ist schwierig, die genaue Anzahl der vom Aussterben bedrohten Arten zu schätzen. Die Arten, deren Aussterben in den vergangenen Jahrzehnten festgestellt wurde, gehören zu gut erfassten Gruppen wie die Wirbeltiere (Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel, Säugetiere) und die höheren Pflanzen. Aber wir kennen noch lange nicht alle Arten, die auf der Erde leben. Man kann daher annehmen, dass viele andere Arten aussterben werden oder bereits ausgestorben sind, ohne dass der Mensch sich dessen bewusst ist.

Im Allgemeinen stirbt eine Art nicht wegen einer einzigen Bedrohung aus, sondern weil mehrere Faktoren vorliegen.

Beispiel der Frösche und Kröten

Die Anzahl der Frösche und Kröten nimmt überall in Belgien ab. Die Zerstörung der Feuchtgebiete führt zu einer Verringerung ihrer Bevölkerungen, wodurch sie empfindlicher auf andere Faktoren reagieren. Die Pestizide, Dünger und zahlreiche andere gefährliche Stoffe, die im Wasser vorhanden sind, schwächen die Individuen und verursachen Missbildungen. Die Klimaerwärmung ist ein Störfaktor für alle Arten, die für das Überleben ihrer Eier und Larven sehr von den Wetterbedingungen abhängig sind. Die Krankheiten wie zum Beispiel Viren und Pilze haben verheerende Folgen für die Bevölkerungen, die bereits geschwächt sind. Unter dem Einfluss der Klimaveränderungen lassen sich immer mehr exotische Arten nieder oder werden vom Menschen eingeschleppt. Sie sind eine Konkurrenz für die einheimische Fauna und können unter Umständen sehr aggressiv sein, wie das der Fall für den Amerikanischen Ochsenfrosch ist. Schließlich hat auch der Straßenverkehr während der Frosch- und Krötenwanderung im Frühjahr zu den Laichplätzen einen entscheidenden Einfluss. Welche Chance bleibt da noch dem Froschkönig aus dem Märchen, wenn all diese Faktoren zusammengerechnet werden?

Demnach stellen sich zwei Fragen: Welches Recht hat der Mensch, im Bruchteil einer Sekunde (aus geologischer Sicht) die aktuelle Artenvielfalt zu zerstören, die sich in 3,5 bis 4 Milliarden Jahren gebildet hat? Und hat dies einen Einfluss auf unser eigenes Wohlbefinden und Überleben?