Nachhaltigkeits-Handbuch

population chine

DIE GLOBALISIERUNG VERSTEHEN

Die Ungleichheiten, die heute zwischen den „nördlichen“ und den „südlichen“ Ländern bestehen, sind das Ergebnis einer langen Geschichte, die vor mehreren Jahrhunderten begann. Damals haben die Europäer andere Teile der Erde kolonisiert, um neue Gebiete, neue Märkte, neue Ressourcen und neue Arbeitskräfte zu erschließen.

Die Reichtümer und die Ressourcen, die in der Kolonialzeit abgebaut wurden, haben die industrielle Revolution in den nördlichen Ländern erst möglich gemacht. Das Prinzip ist einfach: Die Rohstoffe werden zu niedrigen Preisen in den südlichen Ländern abgebaut und zu den Fabriken im Norden transportiert, wo sie zu Verbrauchsgütern verarbeitet und mit großzügigen Gewinnmargen weiterverkauft werden.

Nach dem Ende der Kolonialzeit (in den Jahren 1960) wird das System dank des Welthandels weitergeführt und breitet sich allmählich auf die ganze Welt und die gesamte Produktionskette aus.

Die Globalisierung stützt sich auf die weltweite Verteilung der Produktionsetappen. Die Rohstoffe werden in bestimmten Ländern abgebaut, in anderen Ländern werden sie zu Gütern verarbeitet und in noch anderen werden sie verbraucht. Dieses System ermöglicht es den Unternehmen des Nordens, ihre Werke in die Länder zu verlagern, wo die Löhne am niedrigsten sind. Deshalb kaufen und verarbeiten die Unternehmen die Produkte dort, wo es am kostengünstigsten ist (meistens in den südlichen Ländern), und verkaufen sie dort, wo sie die besten Preise dafür erlangen (meistens in den nördlichen Ländern, wo die Kaufkraft am größten ist).

Die Unternehmen, die auf diese Weise auf dem Weltmarkt ihre Geschäfte tätigen, nennt man die multinationalen Unternehmen. Das sind riesige Unternehmen, die sich aus kleineren Unternehmen aus der ganzen Welt zusammensetzen. Sie werden von einer Handvoll Aktionären geleitet, die den größtmöglichen Gewinn suchen.

Das System, das dahinter steckt, ist folgendes: Die entwickelten Länder verfügen zwar über das notwendige Wissen und die Technologien, nicht aber über die notwendigen und ausreichenden Ressourcen. Die Entwicklungsländer dahingegen verfügen über die notwendigen Ressourcen, aber nicht über die notwendigen finanziellen und technologischen Mittel, um diese zu verwerten. Der Welthandel zieht seinen Nutzen aus diesen Ungleichheiten zwischen den entwickelten Ländern und den Entwicklungsländern und fördert sie.

Der Welthandel ist nur einer der Aspekte des viel komplexeren Problems der Ungleichheiten zwischen den entwickelten Ländern und den Entwicklungsländern. Die Verschuldung der Länder der Dritten Welt und die Frage der Ernährungssouveränität sind weitere Aspekte, die zu untersuchen sind, wenn man sich ein Gesamtbild der Situation machen möchte. Einige Organisationen, die in der Entwicklungszusammenarbeit tätig sind, wie Oxfam, Terre, Friedensinseln (Iles de paix), Miteinander Teilen (Entraide et Fraternité) bieten ausführlichere Informationen zu diesen Schwerpunkten an.

Das Beispiel der Landwirtschaft:

In der Landwirtschaft unterscheidet man zwischen dem Anbau von Nahrungsmittel und dem von Nutzpflanzen:

  • Im Nahrungsmittelanbau werden Grundstoffe wie Getreide, Früchte und Gemüse für die Ernährung der lokalen Bevölkerung angebaut.
  • Im Nutzpflanzenanbau oder gewerblichen Anbau werden Mais, Soja, Raps, Baumwolle, Weizen, Kaffee, Tabak, Kakao usw. angebaut, um auf dem Weltmarkt an multinationale Unternehmen verkauft zu werden, die sie in Verbrauchsgüter verarbeiten.

Manche Nutzpflanzen erreichen auf dem Weltmarkt sehr hohe Preise und sind ertragreicher als manche Nahrungsmittel. Dabei handelt es sich aber um künstliche Preise. Sie werden vom Verhältnis zwischen dem Angebot, der weltweiten Nachfrage und den Börsenkursen beeinflusst. Wenn die Nachfrage steigt, steigen auch die Preise, aber wenn der Weltmarkt gesättigt ist, sinken die Preise und brechen die Einnahmen der Erzeuger zusammen.

Die multinationalen Unternehmen fordern die südlichen Länder auf, ihre Nahrungsmittelkulturen in Nutzpflanzenkulturen umzuwandeln. Der Vorteil der Nutzpflanzen liegt darin, dass die Anbauländer dank des Exportwerts der Nutzpflanzen auf dem Weltmarkt Devisen erhalten. So stimulieren sie den Entwicklungsprozess dieser Länder (und ermöglichen ihnen, einen Teil ihrer Schulden bei den entwickelten Ländern zurückzuzahlen).

Das System hat mehrere große Nachteile

  • In vielen südlichen Ländern wird der Ackerboden, der früher für den Anbau von Lebensmitteln benutzt wurde, heute für den Anbau von Nutzpflanzen eingesetzt. Dadurch werden auf fruchtbaren Böden Güter angebaut, die exportiert werden, und keine Lebensmittel, die für die lokale Bevölkerung dringend notwendig wären. So sind die regionalen Bauern verpflichtet, ihre Lebensmittel zu kaufen, um ihre Familien zu ernähren, anstatt sie selber herzustellen. Häufig reichen ihre Einkommen aber nicht aus, um all ihren Bedürfnissen zu entsprechen. So entstehen heute absurde Situationen, in denen Länder, die große Mengen Agrarprodukte exportieren, Schwierigkeiten haben, ihre eigene Bevölkerung zu ernähren.

Beispiel: die Sahelzone
Während ihrer Kolonisierung und den zwei Jahrzehnten nach ihrer Unabhängigkeit haben die Länder der Sahelzone sich hauptsächlich auf den Anbau von Exportgütern konzentriert und den eigenen Nahrungsmittelanbau vernachlässigt. Im Niger hat sich die Anbaufläche für Erdnüsse zwischen 1954 und 1968 zum Beispiel verdreifacht. Dadurch mussten die Hirtennomaden, die bisher dieses Land als Weideland nutzten, in weniger fruchtbare Gebiete ziehen. Der Bevölkerungsdruck und unangemessene landwirtschaftliche Methoden haben diese fruchtbaren Böden in mittelmäßige bis unbrauchbare Böden verwandelt. Anfang der Jahre 1980 wurde das Land dann von einer großen Hungersnot heimgesucht, während der Erdnussexport Rekorde verzeichnete. Als der Wert der Erdnüsse aber dadurch sank, musste die Bevölkerung ihre Lebensmittel in anderen Ländern zu Höchstpreisen kaufen. Die geringen Einkommen reichten aber nicht aus, um ihre Familien zu ernähren, und die Hungersnot wurde nur noch schlimmer.

  • Durch die Umwandlung der Ackerböden in Anbauflächen für Nutzpflanzen sind die Bauern des Südens von den multinationalen Unternehmen abhängig geworden. Diese bevorzugen die Reinkultur mit wenigen Sorten Nutzpflanzen, die große Mengen Dünger und Pflanzenschutzmittel benötigen. Sie verkaufen den südlichen Bauern das Saatgut – auf Kredit – gleichzeitig mit den notwendigen Dünge- und Pflanzenschutzmitteln. Bei einer schlechten Ernte kann der Bauer seinen ursprünglichen Kredit nicht zurückzahlen. Er ist somit gezwungen sich noch mehr zu verschulden oder seine Felder zu verkaufen. Viele kleine Bauern sind auf diese Weise schon in den Teufelskreis der Verschuldung und Armut geraten (und häufig ist Selbstmord für sie der einzige Ausweg). Die Entwicklung der GVO (Genetisch veränderte Organismen) erhöht den Druck der multinationalen Unternehmen auf die Bauern des Südens zusätzlich (und auch den Druck auf die kleinen Bauern des Nordens).
  • Die Biopatente sind eine weitere Bedrohung für die kleinen Bauern des Nordens wie des Südens. Die multinationalen Unternehmen eignen sich die Saatgutarten an, die der Mensch im Laufe der Jahrtausende entwickelt hat, und lassen sie als ihr Eigentum patentieren. Dadurch verpflichten sie die Bauern, für diese Patente übertriebene Preise zu zahlen, um das Saatgut weiter aussäen zu dürfen, wie sie es bisher immer getan haben.
  • Gewisse Industrieländer (wie die Vereinigten Staaten und die Europäische Union) unterstützen ihre Landwirte mit Subsidien. Dank dieser Subsidien können die Landwirte ihre Produktion unter dem Herstellungspreis verkaufen. Die Landwirte aus den Entwicklungsländern, die keine staatliche Unterstützung erhalten, sind jedoch gezwungen, ihren Ertrag zum gleichen Mindestpreis zu verkaufen, womit ihre Kosten kaum gedeckt werden.
  • Die entwickelten Länder überschwemmen den Markt der Entwicklungsländer häufig mit Produkten, deren Preise weit unter den lokalen Preisen liegen. Durch diesen unlauteren Wettbewerb verlieren die lokalen Bauern ihre Kundschaft und bricht die lokale Wirtschaft zusammen.

Die belgische NGO SOS-Faim prangert diese Praktiken des unlauteren Wettbewerbs in ihren Kampagnen über die Hühner („Mon poulet, ma poule“) und die Milch („L’Europe est vache avec l’Afrique“) an. (www.sosfaim.be).

Wir stellen heute genügend Lebensmittel her, um die gesamte Weltbevölkerung zu ernähren, was vor einem Jahrhundert kaum denkbar gewesen wäre. Schätzungen zufolge könnten wir sogar genug Nahrung herstellen, um doppelt so viele Personen zu ernähren (in den Schätzungen spricht man von 12 Milliarden Menschen). Dazu benötigen wir allerdings eine bessere Verteilung der Nahrungsmittel in der Welt, die Wiedereinführung des Nahrungsmittelanbaus in den armen Ländern, die Anpassung der Ernährungsgewohnheiten und weniger Verschwendung in den nördlichen Ländern, aber auch die Neuorientierung der Weltwirtschaft, die sich bisher nicht den Grundbedürfnissen sondern der Anhäufung der Gewinne widmet.

Mehr Infos?

Für alle, die sich eingehender mit diesem Thema befassen möchten:

> „Ma mondialisation“, Dokumentarfilm von Gilles Perret, Frankreich 2006, 86 Min.
> „The future of food – La nourriture peut-elle nuire à la santé ?“, Dokumentarfilm von Deborah Koons Garcia, Lily Films, 2004. Erhältlich als DVD bei der Mediathek der Französischsprachigen Gemeinschaft (Referenz TN 3381).
> „La menace vient du Nord – Enquête sur le coton“, Herausgeber Peuples Solidaires, Oxfam Solidarité und Oxfam Magasins du monde. Zu kaufen in den Oxfam-Shops.
> „Juste Planète – Quand la fibre résiste“, Film von Jean-Michel Vennemani, Compagnie des Phares et Balises, 2005. Erhältlich als DVD in der Mediathek der Französischsprachigen Gemeinschaft (Referenz TL 5542).

Beispiel: Baumwolle

„Die Baumwollindustrie steckt in einer tiefen Krise. Durch die chronische Überschussproduktion häufen sich die Baumwollreserven schon seit vielen Jahren an. Das Ergebnis: Der Kurs bricht ein und das Pfund Baumwolle, das vor drei Jahre noch 70 Cent US kostete, ist 2001 auf 30 Cent gesunken und hat sich heute auf gerade Mal 50 Cent erholt.
Diese Kluft zwischen dem Angebot und der Nachfrage hat mehrere Gründe: die Konkurrenz der synthetischen Fasern, der Anbau von genetisch veränderter Baumwolle, die Wirtschaftskrise aber vor allem die massiven Subsidien, die bestimmte Länder ihren Baumwollerzeugern gewähren, allen voran die Vereinigten Staaten, der weltweit führende Baumwollausführer. Siebzig Prozent der weltweiten Produktion wird subventioniert. Die amerikanische Regierung alleine hat ihre Baumwollbauern im Jahr 2000 mit etwa 4,2 Milliarden Dollar unterstützt.
Das sind eindeutig Dumping-Praktiken, die eine Verzerrung des internationalen Marktes bewirken. Die Hersteller aus den Ländern, die ihre Bauern nicht unterstützen können, erwischt dieses Dumping mit voller Härte. Diese aggressive Eroberungsstrategie der Weltmärkte der Vereinigten Staaten von Amerika bringt die brasilianischen, indischen und pakistanischen Baumwollbauern um ihr Einkommen.
Aber nirgendwo sind die Auswirkungen so katastrophal wie für die Baumwollbauern des subsaharischen Afrikas. Das französischsprachige West- und Zentralafrika (AOC) gehört nicht zu den großen Baumwollregionen wie zum Beispiel China, die Vereinigten Staaten, Indien oder Pakistan. In AOC wird auf sehr kleinen Flächen (im Durchschnitt 1 ha) Baumwolle angebaut, die nicht bewässert wird und die mit der Hand gepflückt wird. Dennoch belegt AOC einen wichtigen Platz auf dem Weltmarkt, weil seine gesamte Baumwollproduktion für den Export bestimmt ist. Die AOC-Länder liegen mit 15% des weltweiten Exports an dritter Stelle der Exportländer.
Unter diesen Umständen haben die Kurseinstürze für diese Länder, die nicht die Mittel haben, ihre Bauern finanziell zu unterstützen, besonders verheerende Folgen. Ein Einkommensrückgang von 25% bzw. 50% im Baumwollsektor ist für diese Länder eine Katastrophe, da der Baumwollsektor die einzige Deviseneinnahmequelle und die einzige Einkommensquelle für Tausende Bauern darstellt.
Der Baumwollsektor der AOC-Staaten, der durch die Liberalisierung und das Ende der Monopolstellungen, die von der Weltbank auferlegt werden, bereits stark in Mitleidenschaft gezogen worden ist, kämpft heute ums Überleben.
Aus diesem Grund haben die Hersteller aus Mali, Burkina Faso und Benin bereits 2001 reagiert und einen ersten Aufruf gestartet, um die Vereinigten Staaten und die Europäische Union offiziell aufzufordern, dem Baumwollsektor keine Subsidien mehr zu gewähren. “