Nachhaltigkeits-Handbuch

riviere polluee

II.
EINGENSCHAFTEN DER
GEFÄHRLICHEN STOFFE

Obschon es zahlreiche natürliche gefährliche Stoffe gibt, werden heutzutage vor allem die synthetischen gefährlichen Stoffe (auch chemische Stoffe genannt) angeprangert, wenn von den Gefahren für die Gesundheit und die Umwelt die Rede ist.

Die Lehre, die sich mit der Untersuchung der Folgen der Stoffe, die für die Volksgesundheit als gefährlich betrachtet werden, befasst, ist die Toxikologie.

1. Weshalb sind manche synthetische Stoffe gefährlich?

Die Lebewesen sind im Laufe einer langsamen Entwicklung entstanden, die ihnen Zeit gelassen hat, sich an ihre Umgebung anzupassen und eine Immunität gegenüber bestimmten natürlichen gefährlichen Stoffen zu entwickeln. Die synthetischen Stoffe wurden aber in der chemischen Industrie geschaffen. Sie sind daher nicht als solche in der Natur vorhanden. Die Lebewesen, die heute mit diesen Stoffen in Kontakt kommen, hatten keine Zeit, um sich daran anzupassen. Ihr Organismus reagiert daher besonders stark auf gewisse Stoffe, indem sie Allergien, Krankheiten und andere Fehlfunktionen entwickeln.

Es ist sehr schwierig, die Gefahren eines chemischen Produktes zu bestimmen. Hierzu müssen die Giftigkeit und die jeweiligen Auswirkungen dieser Stoffe im Rahmen von Labortests untersucht werden. Die Untersuchung der langfristigen Folgen ist ein langwieriger und kostspieliger Prozess.

Früher wurden daher viele synthetische Stoffe und Produkte auf den Markt gebracht, für die im Vorfeld weder Tests stattgefunden hatten, noch der Beweis ihrer Unschädlichkeit für die Gesundheit erbracht worden war. Heute werden weltweit über 100.000 verschiedene synthetische Stoffe verwendet. Jedes Jahr werden neue Stoffe in der Chemieindustrie entwickelt, die diese beeindruckende Zahl weiter erhöhen. Schätzungen der Umweltorganisation Greenpeace zufolge wurden nur 5% dieser Stoffe auf ihre Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt getestet. Für 95% dieser Stoffe herrscht daher eine große Ungewissheit hinsichtlich ihrer Auswirkungen.

Dies hat zur Folge, dass die Anzahl chronischer Krankheiten, wie insbesondere Krebserkrankungen, seit den Jahren 1950 weltweit und insbesondere in den stark industrialisierten Ländern angestiegen ist.

Eine Gruppe von Wissenschaftlern hat 2004 Alarm geschlagen und die Internationale Erklärung zu den Gesundheitsgefahren durch Chemikalien, der so genannte Aufruf von Paris, veröffentlicht. Darin werden die direkten Zusammenhänge zwischen der chemischen Verschmutzung und den Krankheiten in 3 Feststellungen unterstrichen:

  • Die Entstehung zahlreicher heutiger Krankheiten ist eine direkte Folge der Umweltzerstörung.
  • Die Belastung der Umwelt mit Chemikalien stellt eine ernsthafte Bedrohung für Kinder und für das Überleben der Menschen dar.
  • Da unsere eigene Gesundheit, die unserer Kinder und zukünftiger Generationen gefährdet ist, ist die Menschheit selbst gefährdet.

In diesem Text rufen 68 internationale Experten alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union dazu auf, den Schutz der Gesundheit und der Umwelt in den Mittelpunkt jeder öffentlichen Politik zu stellen, um die Gesundheit unserer Kinder und künftigen Generationen zu schützen. Hierzu veröffentlichen sie 164 Empfehlungen und Maßnahmen, die sich hauptsächlich auf Krankheiten infolge der chemischen Verschmutzung beziehen: Krebs, Unfruchtbarkeit, Missbildungen, Fettleibigkeit, Krankheiten des Nervensystems, Allergien, …

Der Aufruf von Paris gilt für die europäischen Instanzen als Referenzwerk. Bis heute haben mehrere hundert internationale Wissenschaftler, etwa 1.000 NGOs und rund 200.000 Bürger den Aufruf unterzeichnet.

Wichtigste Empfehlungen und Maßnahmen des Aufrufs von Paris

  1. Chemische Stoffe, die krebserregend, erbgutverändernd oder fortpflanzungsschädigend sind (CMR-Stoffe), wie z.B. Formaldehyd, gewisse Phtalate (DEHP), Bisphenol A, Kadmium und Quecksilber sowie deren Derivate sind vom Markt zu nehmen.
  2. Organobromverbindungen sind wegen der sehr hohen Reaktivität von Brom mit Ozon und folglich der Gefahr, die stratosphäre Ozonschicht weiter zu zerstören, vom Markt zu nehmen.
  3. Die Marktzulassung von Pestiziden, Futtermittelzusatzstoffen und Kosmetikzusatzstoffen ist ähnlich wie im Arzneimittelsektor an eine Genehmigung zu binden.
  4. Die geplante Reduzierung des Pestizideinsatzes, die Entwicklung des biologischen Anbaus und folglich eine Reform der Gemeinschaftlichen Agrarpolitik.
  5. Die Verwertung des Abfalls durch Abfalltrennung und Wiederverwertung anstelle der Abfallverbrennung und Mitverbrennung.
  6. Die Gründung einer europäischen Agentur und eines Forschungsinstituts für die Verbesserung der Abfallverwaltung und -behandlung.
  7. Die Notwendigkeit, das 7. Rahmenprogramm der Europäischen Gemeinschaft für die Forschung und technologische Entwicklung auf die Ökologie und die Vorbeugung von Umweltkrankheiten auszurichten, und nicht nur auf die Genetik und die Behandlungen;
  8. Die Bildung in Ökologie und Hygiene ab dem frühesten Alter.
  9. Die Schaffung einer neuen medizinischen Disziplin: die Umweltmedizin.
Mehr Infos?

> Siehe INFOBLATT (in Band 4)
Aufruf von Paris und REACH

Im Anschluss an diesen Aufruf erließ die Europäische Union 2006 eine strengere Politik in Sachen Chemikalien: die REACH-Verordnung. Darin werden die schrittweise Prüfung und Registrierung von 30.000 Chemikalien (von den über 100.000 in Europa vorhandenen Chemikalien) vorgeschrieben.

2. Manche Eigenschaften erhöhen das Risiko synthetischer gefährlicher Stoffe:

Die Langlebigkeit synthetischer Stoffe. Viele synthetische Stoffe sind nicht biologisch abbaubar. Sie bleiben manchmal über mehrere tausend Jahre in der Natur erhalten.

Der Kreislauf der synthetischen Stoffe. Gewisse synthetische gefährliche Stoffe haben eine sehr stabile Molekularstruktur und verfügen über eine sehr hohe Lebensdauer. Wenn sie in die Luft oder in Gewässer gelangen, bleiben sie dort bestehen. Sie werden vom Wind und den Strömungen über den gesamten Globus bis hin in die entlegensten Regionen verteilt. Sie können auch von einem Element zum anderen Element (Wasser, Luft, Boden) übergehen. Ein gefährlicher Stoff, der über einen Fabrikschornstein in die Luft gelangt, kann durch den Wind bis ans andere Ende der Welt transportiert werden. Dort fällt der Stoff nieder und legt sich auf dem Boden ab. Wenn es regnet, sickert der Stoff mit dem Wasser in den Boden und in das Grundwasser ein oder wird in die Flüsse oder Ozeane gespült. Dies hat zur Folge, dass ein einziger Stoff die Luft, das Wasser und den Boden gleichzeitig verschmutzen kann.

Die biologische Anreicherung. Während ihres gesamten Daseins sind die Lebewesen unterschiedlichen gefährlichen Stoffen ausgesetzt. Diese werden mit der Nahrung, beim Atmen oder über Hautkontakt aufgenommen und sammeln sich im Blut und in den Geweben an. Einige Stoffe werden schrittweise durch den Stoffwechsel abgebaut, andere wiederum können nicht abgebaut werden und sammeln sich während des gesamten Lebens an. Mit der Zeit oder wenn ein gewisses Maß erreicht ist, verursachen diese Stoffe Krankheiten oder Funktionsstörungen.

Die Anreicherung über die Nahrungskette. Schadstoffe werden nicht nur über die Luft, das Wasser oder die Erde, sondern auch in den Nahrungsketten weitergereicht. Im Boden befindliche Schadstoffe werden beispielsweise gleichzeitig mit den wachstumserforderlichen Mineralstoffen durch Pflanzen aufgenommen. Diese Pflanzen werden von pflanzenfressenden Tieren verzehrt. Die Schadstoffe in der Pflanze befinden sich nun im Blut und im Gewebe des Tieres, das die Pflanze gefressen hat. Anschließend wird das Tier von einem fleischfressenden Tier verzehrt, das gleichzeitig die im Fleisch befindlichen Schadstoffe aufnimmt. Auf diese Weise häufen sich die Schadstoffe im Laufe der Nahrungskette in den Organismen an. Bei jeder Etappe steigt die Konzentration der vom Lebewesen aufgenommenen Giftstoffe. Die Verbraucher, die sich am äußersten Ende der Nahrungskette befinden (die sog. Spitzenkonsumenten) können daher unter Umständen erhebliche Mengen Schadstoffe aufnehmen.